Vorwort

Die Parabel ist eine mit dem Gleichnis verwandte Form von Literatur, eine lehrhafte und kurze Erzählung. Sie wirft Fragen über die Moral und ethische Grundsätze auf, welche durch Übertragung in einen anderen Vorstellungsbereich begreifbar werden. Das im Vordergrund stehende Geschehen hat eine übertragene Bedeutung. Deshalb macht es auch nichts, dass es im Regenwald keinen Elefanten gibt.

Der Kolibri

Ich hatte versprochen, Euch zum Abschluss eine Parabel zu erzählen. ich möchte euch die Geschichte vom Kolibri erzählen. Mein Meister von Wachuma hat sie mir am 31. Dezember 1999, kurz bevor wir das Millennium gefeiert haben, erzählt.

Eines Tages vor langer Zeit, ist im Regenwald des Amazonas ein großer Brand ausgebrochen. Der Brand war so gefährlich, dass alle Tiere vor diesem Brand fliehen mussten. Instinktiv machten sich alle auf ihre Art und Weise auf den Weg. Und sie hatten nur eine Richtung, den Amazonasfluss. Denn sie wussten, was wir Menschen längst vergessen zu haben scheinen, der Amazonas ist die Hauptschlager der Mutter Erde. Hier wussten sie, würden sie sicher sein. Die, die nicht schnell genug rennen oder fliegen konnten, wurden von den anderen Tieren getragen, geschoben oder gezogen. So gelangten sie alle endlich an den großen Fluss, von dem kleinsten Wurm, den Insekten bis hin zum Elefanten. Und als die ersten Tiere am Ufer angekommen waren, bildeten sie direkt mit der Hilfe der Biber, Seeotter und Fische einen Übergang über den Amazonas. Alle fanden sie ihre Aufgabe, wie sie sich selbst aber auch die anderen Tiere auf das sichere andere Ufer bringen konnten. Alle waren sie so mit der Rettung beschäftigt, dass sie erst dann Zeit hatten sich umzudrehen, nachdem alle Tiere des Regenwaldes auf der anderen Seite des Flusses angekommen waren.

Nun konnten sie das Ausmaß der Zerstörung sehen. Überall hatten sich die Flammen tief in den Boden gefressen und gnadenlos ihrem Weg gebahnt. Mehr als haushoch waren die Flammen dieses größten Bandes, den die Tierwelt je erlebt hatte. So gewaltig, dass ihnen selbst hier auf der sicheren Seite noch angst und bange wurde. Und tatsächlich schickten sich die ersten Flammenzungen an, auch diese große Wasserbarriere zu überspringen. Voller Frucht und bangen Herzens blickten sie um sich und stellten erfreut fest, dass sie es alle geschafft hatten. Und alle waren auch darüber glücklich, dass sie die alte Lehre der Weisen ihres Volkes wiederentdeckt hatten. Das Geschenk des Ayni, denn sie hatten sich gegenseitig geholfen. Und noch während sie dankbar darüber nachdachten, ging plötzlich ein Aufschrei durch die Reihen der großen und kleinen Tiere.

Was ist passiert, fragten sie sich. Denn der Kolibri, ausgerechnet der Vogel, der am schnellsten fliegen kann, den alle wegen seiner Fröhlichkeit liebten, war nicht da. “Wo ist er nur?” Doch so sehr sie auch suchten, sie fanden ihn nicht. Und alle dachten an das Schlimmste, waren traurig und weinten. Armer Kolibri, dachten sie und vermuteten, dass er vermutlich zu tief geschlafen hatte. Das war die einzige Erklärung, die sie finden konnten.

Und in dieser tiefen Traurigkeit, die sie alle empfanden, sahen sie auf einmal in all dem Qualm und Rauch des Feuers einen kleinen, weit entfernten Punkt, der mit großer Geschwindigkeit hin und her flog. Und alle schrien wie mit einer Stimme, der Kolibri! Sie riefen laut seinen Namen, doch so sehr sie sich fast heiser schrien, er schien sie nicht zu hören.
So konnten sie nur beobachten, wie der Kolibri aus großer Höhe zur Wasseroberfläche des Amazonas stürzte, um in seinem Schnabel einen kleinen Tropfen Wasser aufzunehmen und sofort wieder in den Qualm, den Rauch und die Flammen zurückzukehren. “Nein!”, ihnen stockte der Atem, als sie das mit ansehen mussten. “Nein, das kann nicht wahr sein, der Kolibri ist schon wieder verloren.” Und viele von ihnen dachten, er muss verrückt geworden sein! Wie kann er wieder in das Feuer zurückkehren? Doch nur einen Wimperschlag später sehen sie ihn wieder aus dem Rauch herausfliegen, zum Wasser stürzen und erneut einen Tropfen Wasser in seinen Schnabel aufnehmend in die vernichtende Feuerwalze zurückfliegen. Und alle schrien wieder: “Nein, nein, Kolibri komm hierher, zu uns!”

Aber er hörte nicht auf sie und nachdem er auf diese Weise noch viele, viele Male auf und abgeflogen war, kam er endlich zu Ihnen. Aber nur ganz langsam und mit letzter Kraft schaffte er es dann doch noch über den Fluss und fiel, wie ein Stein, völlig erschöpft, vor die Hufe und Beine der Tiere nieder. Und alle dachten, oh der liebe, verrückte Kolibri, er ist gestorben.

Alle wurden so traurig und schüttelten den Kopf und murmelten leise vor sich hin: “Kolibri, wie konntest du das nur tun?” Alle schüttelten den Kopf und ganz besonders der größte unter Ihnen, der Elefant. Er schaute traurig auf den kleinen Kolibri herab und meinte nur zu den anderen: “Schaut nur einmal, mit meinem Rüssel hätte ich so viel Wasser vom Fluss nehmen können! Aber, ganz ehrlich, ich habe mich nicht getraut.” Und dann sagte auch die Anakonda: “Und mit meinem langen Bauch hätte ich hunderte von Liter trinken können, aber auch ich war feige!” Und so teilte ein Tier den anderen Tieren mit, was es auf seine Weise hätte tun können.
Und als alle fertig waren und ganz betroffen ihre Köpfe hängen ließen, schlägt der Kolibri seine kleinen müden Augen auf und sieht, wie alle Tiere um ihn in einem Kreis versammelt sind. Mit letzter Kraft, schafft er es zu flüstern: “Ja, auch ich hatte Angst! Aber ich, ich habe meinen Teil gemacht. Nur das was mir möglich war.”

Don Victor Estrada

Ayni oder Ayniy (aus dem Quechuan) ist eine im Kulturraum der Anden und im angrenzenden östlichen Tiefland verbreitete, aus präkolumbischer Zeit tradierte Form der Arbeit in gegenseitiger Hilfe. Mitglieder der Dorfgemeinschaft helfen einer Familie bei privaten Vorhaben, z. B. dem Hausbau oder Feldarbeiten. Dabei kann jede Familie in den Genuss dieser Hilfe kommen, und Mitglieder jeder Familie helfen anderen Familien. Während der Arbeit werden die Helfenden mit Essen und Trinken versorgt.

Wikipedia

Gudrun Witte-Borst 16.08.2022

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